"Nie wieder Krieg!"

Online-Friedensgebet von Donnerstag, 28.05.2020

Im Gedenken an die Kapitulation Deutschlands am 8. Mai vor 75 Jahren

„Nie wieder Krieg!“ – dieser Satz prägte sich ein in die Herzen ganz Europas.
Er wurde Verpflichtung für die Deutschen, die ihm ein „Nie wieder Faschismus“ an die Seite stellten.
In diesem Monat jährte sich zum 75. Mal die Kapitulation Deutschlands und das Ende des Krieges auf europäischem Boden.
Durch die Corona-Zeit sind wir als Gesellschaft schnell über dieses Datum hinweggegangen. Andere Themen drängten sich täglich in den Vordergrund.
Das Friedensgebet am 28. Mai greift den Jahrestag noch einmal auf und erinnert in zum Teil sehr persönlichen Texten an das Kriegsende und seine unüberhörbare Botschaft: „Nie wieder Krieg!“
Da eine Einladung zu den letzten Friedensgebet in der Süsterkirche nicht möglich war, ist die Idee eines monatlichen Online-Friedensgebetes entstanden, das in Corona-Zeiten bisher dreimal stattfand und jeweils mehr als 200 Besucherinnen und Besucher zählte. Mittlerweise sind Gottesdienste in der Süsterkirche wieder möglich, doch das Team hat sich entschlossen, das Friedensgebt im Mai ausschließlich online anzubieten.
Wir laden herzlich ein!

„Nie wieder Krieg“ – Online-Friedensgebet am Donnerstag, 28. Mai 2020

1. Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden! (Horst Haase)

2. Persönliche Reflexion zu „Nie wieder Krieg!“ (Rainer Nuß)

3. Richie Havens – Freedom 1969

4. Wolfgang Schnurre – Der Schattenfotograf

5. Reinhold Schneider, 15.7.1945

6. Ich habe einen Traum (Konstantin Wecker)

7. Alle Tage – Ingeborg Bachmann (1953

8. Predigt zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs (in Europa) am 8. Mai 2020 (Renke Brahms)

9. Dona Nobis Pacem

10. Gebet für unsere Erde (Papst Franziskus)

1. Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden!

Im ersten Friedensgebet dieses Jahres habe ich nach diesem Satz in der Begrüßung unter anderem folgendes gesagt:

„Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz durch Soldaten der Sowjetarmee befreit. Der 75. Jahrestag war in diesem Jahr für alle ein Tag zum Innehalten und Nachdenken. Besonders ausgeprägt mag das bei Menschen meines Alters sein, weil wir den Januar 1945 schon erlebt haben und bleibende Erinnerungen mit uns tragen. Der Januar 1945 war aber weder das Ende der Naziherrschaft noch das Ende des grausamen Mordens. Sie haben in den verbleibenden Monaten in ihrer Endzeitpanik noch besonders grausam gewirkt. Insofern ist eigentlich jeder Tag bis zum 8. Mai ein 75. Jahrestag.“

Im Januar konnten wir noch nicht ahnen, dass der 8. Mai seinen Platz als Gedenktag in diesem Jahr im Nebel der Corona Krise behaupten musste. Er verlief so ganz anders: Die waffenstrotzenden Militärparaden fielen fast überall aus, die Gedenkreden waren nachdenklicher, leiser. Gedenkfeiern fanden bei uns in gespenstischer Einsamkeit der führenden Repräsentanten unseres Staates statt.

Geblieben ist das Credo, das dieses Datum gebietet und an das sich immer noch längst nicht alle halten: Nie wieder Krieg!

Uns erscheint dieser Ausspruch –vor allem mit der Ergänzung „von deutschem Boden aus“- selbstverständlich zu sein.

Wahr ist aber, dass „wir“ uns im Mai 1945 nicht „befreit“ gefühlt haben. Noch 40 Jahre später hat es bis heute anhaltendes Aufsehen erregt, dass der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Gedenkrede sagte, dass am 8. Mai 1945 nicht nur viele Gefangene in Lagern und Gefängnissen, sondern „wir“ alle befreit wurden. Befreit von den Schrecken, der Willkür und Erbarmungslosigkeit eines verbrecherischen Regimes. Muss es uns nicht nachdenklich stimmen, dass eine solche Aussage 1985 noch so bedeutsam war, dass wir auch heute noch immer wieder an sie und ihren Stellenwert in unserem Selbstfindungsprozess nach dem Krieg erinnern. Ja, es lohnt sich auch darüber nachzudenken und dabei zu bedenken, dass alles, was wir heute erreicht haben, nicht von selbst kam, sehr zerbrechlich erscheint und mutiger Menschen bedurfte.

Der Staatsanwalt Fritz Bauer hat gegen teils erbitterten Widerstand in der Nachkriegsgesellschaft und der Justiz 1952 in einem Prozess in Braunschweig erreicht, dass die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 erstmals rehabilitiert wurden. Der erste Bundespräsident Heuss hat gewagt, diese Wertung zu wiederholen und damit vor allem viel Widerspruch ausgelöst.

Es hat bis 1963 gedauert bis Fritz Bauer den ersten Prozess gegen die Täter von Auschwitz durchgesetzt hatte. Er wurde von vielen als Störer empfunden.

„Wir“ haben uns schwergetan, in der neuen Wirklichkeit anzukommen. Und wir müssen auch heute noch wachsam sein, dass die furchtbaren alten Zeiten nicht neu verklärt neue Anhänger finden.
 
Die aus äußerem Anlass erzwungene neue und oft ganz andere Nachdenklichkeit dieses 75. Erinnerns an den furchtbarsten aller Kriege ist hoffentlich ein Meilenstein auf dem Weg in eine gerechte und friedliche Zukunft.

„Der Mensch ist das Maß aller Dinge – auch allen Rechts – wer aber ist der Mensch?“ hat Fritz Bauer einmal formuliert.

Ich meine, der Mensch, wir Menschen sind es, nur wir sind es, die dem Satz „Nie wieder Krieg“ zu dauerhafter Bedeutung verhelfen müssen und können. Unser Erinnern, unser Gebet kann und soll ein Beitrag dazu sein. Beten wir ohne müde zu werden gemeinsam weiter! 

          (Horst Haase)

2. Persönliche Reflexion zu „Nie wieder Krieg!“

8. Mai 1945 – endlich schweigen die Waffen. Die Überlebenden kriechen aus ihren Kellerlöchern, das tausendjährige Reich liegt in Ruinen. Befreit fühlen sich die wenigsten Deutschen.

Meine Mutter wurde am 08.05.1921 geboren. Wenn wir ihren Geburtstag feierten, sagte sie oft: „Wir feiern Kriegsende und meinen Geburtstag!“ 8. Mai 2020 – 75 Jahre Kriegsende! Der 8. Mai 1945, ein Tag wie eine Erlösung! – für eine 24-jährige Frau, meine Mutter, und für so viele.

Nie wieder! Nie wieder Krieg!

Mein Vater erzählte uns Kindern leider nur sehr sparsam, geradezu wortkarg vom Krieg. Ein Erleben wurde aber mehrfach von ihm berichtet. Wie eine Metapher, die kaum sein wirkliches Erleben wiedergab, aber sein Versuch war, mit dem Trauma umzugehen und zeichenhaft für die Grausamkeit des Krieges stehen sollte - und unsere Kinderherzen zutiefst berührte: „Ich habe auf Befehl hin in einem brennenden italienischen Dorf ein Schaf geschlachtet! Das geht mir nicht mehr aus dem Sinn.“

Nie wieder Krieg und die Bitte der Eltern an uns Kinder, keinen Beruf zu wählen, wo möglicherweise Uniform zu tragen wäre! Selbst, wenn ich damals hätte Schaffner oder Pilot werden wollen, meinen Eltern zuliebe hätte ich es mich nicht getraut.
Nie wieder! Nie wieder Krieg!
Uniform, Befehl, Ohnmacht. –
     Dieses wehrlose Schaf, der Krieg, die Schuld. –
          Tag der Befreiung, mein Gott, das Leben. –
               O lasst uns wachen über jeden Keim der Hoffnung!

Was fühlst du? Sehe ich dich, nehme dich wahr? Kann ich deine Bilder deuten, deine kargen Bruchstücke von Worten, in Andeutungen auch ihre Tiefe und Weite verstehen?
Geliebt bin ich, beschenkt habt ihr mich mit Liebe, trotz aller eigenen Traumata. Unvollkommen, aber fähig mit-zu-fühlen, Angst und Freude in Angesicht eines Menschen zu sehen, Empfindungen eines Tieres wahrzunehmen, zu achten auf das, was DU empfindest …

Nie wieder! Nie wieder Krieg! – O lasst uns wachen über jeden Keim der Hoffnung!

„Wer Frieden will und dem Krieg entsagt, muss die Ehrfurcht vor dem Leben lernen“ (Albert Schweitzer).
Ich kann das Leben zerstören. Aber ich will mit-leiden, mit-fühlen, mich in dich hinein-versetzen, Anteil nehmen, Lebendigkeit fördern … Das Leben ist heilig – nicht nur mein eigenes.
„Ich bin Leben, das leben will – inmitten von Leben, das leben will.“ (Albert Schweitzer).

Nie wieder! Nie wieder Krieg! O lasst uns wachen über jeden Keim der Hoffnung!

„Aber kommen möge das Reich des Friedens, der Wahrheit, des Erbarmens, des Mutes, der individuellen Freiheit, der Tapferkeit, des Glückes für jedes Menschenkind, welches das Licht der Welt erblickt. O lasst uns wachen über jeden Keim der Hoffnung!“ (Drewermann, Markusevangelium, 2.Teil)

Nie wieder! Nie wieder Krieg!

(Rainer Nuß)

3. Richie Havens – Freedom 1969

Freiheit …
Manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind …
Weit weg von Zuhause …
Freiheit …
Manchmal fühle ich mich, als wäre ich fast weg …
Weit, weit, weit, weit weg von meinem Zuhause …
Klatscht in eure Hände …
Hey ... yeah
Ich habe ein Telefon in meiner Brust …
Und ich kann ihn von meinem Herzen anrufen …
Wenn ich meinen Bruder brauche... Bruder …
Wenn ich meine Mutter brauche... Mutter …
Hey ... yeah ...

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4. Wolfgang Schnurre - Der Schattenfotograf:

(1945) Die Toten am Hang als wir, den Jungen im Kinderwagen, bei Harzburg über die grüne Grenze gingen. Das Eichelhäherkreischen verriet uns. In den Maschinenpistolenläufen der Sowjetsoldaten spiegelte sich ölig der Himmel.

(1946) S-Bahnfahrt durch das zerbombte Berlin. Pappe in den Fensterrahmen. Mondkrater draußen. (…)
U-Bahnfahrt während der gleichen Zeit. Hatte zehn Karl-May-Bände (die letzten der sechzig) gegen ein zweipfündiges Weißbrot getauscht. Es ahnungslos in einem weitmaschigen Einholnetz verstaut. Dem Speichelschlucken und den fressenden Blicken der Fahrgäste jetzt jedoch nur in außerordentlich begrenztem Umfang gewachsen. Als ein vor Hunger sabbernder Rentner mir schweigend sein aufgeklapptes Taschenmesser reichte, war es um das Weißbrot geschehen. Obwohl Scheiben in Papierblatt-Dicke dazwischen, nur etwa noch ein halbes Pfund nach Hause gebracht. Streit deshalb mit U. Sie nahm an, daß mein eigener Hunger dem Brot so zugesetzt hätte. Problematischer Vorwurf, denn wir hatten einen einjährigen Jungen zusammen.

5. Reinhold Schneider, 15.7.1945

„Aus den Kellern, über die der Tod hinweggebraust ist, steigen die Menschen empor.
Sie haben miteinander, füreinander gebetet.
Sollten Sie sich nun nicht einmal die Hand reichen?
Sollten Sie das Gebet vergessen?
Und wenn sie sich die Hand geben: darf das zum Abschied sein?
Müssten Sie einander nun nicht im Herzen behalten?

„Die Überlebenden sind zu Verwaltern der Gnade dieser entsetzlichen Jahre bestellt.
Wie, wenn sie einstmals als ungetreue Verwalter erfunden würden,
weil sie ihre eigene Kunst und Rede höher schätzten als das ihnen anvertraute geheimnisvolle Gut:
den Tod der Märtyrer, den Anfang des Einsseins.“

6. Ich habe einen Traum (Konstantin Wecker)

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Ich habe einen Traum
Ich hab einen Traum, wir öffnen die Grenzen
und lassen alle herein,
alle die fliehen vor Hunger und Mord,
und wir lassen keinen allein.

Wir nehmen sie auf in unserem Haus
und sie essen von unserem Brot,
und wir singen und sie erzählen von sich
und wir teilen gemeinsam die Not

und den Wein und das wenige was wir haben,
denn die Armen teilen gern,
und die Reichen sehen traurig zu -
denn zu geben ist ihnen meist fern.

Ja wir teilen, und geben vom Überfluss
es geht uns doch viel zu gut,
und was wir bekommen, ist tausendmal mehr:
und es macht uns unendlich Mut.

Ihre Kinder werden unsere sein,
keine Hautfarbe und kein Zaun,
keine menschenverachtende Ideologie
trennt uns von diesem Traum.

Vielleicht wird es eng. Wir rücken zusammen,
versenken die Waffen im Meer,
wir reden und singen und tanzen und lachen,
und das Herz ist uns nicht mehr schwer.

Denn wir haben es doch immer geahnt
und wollten es nur nicht wissen:
was wir im Überfluss haben, das müssen
andere schmerzlich vermissen.

Ja wir teilen, und geben vom Überfluss,
es geht uns doch viel zu gut.
Und was wir bekommen ist tausendmal mehr
und es macht uns unendlich Mut

Und die Mörderbanden aller Armeen,
gottgesandt oder Nationalisten,
erwärmen sich an unsren Ideen
und ahnen, was sie vermissten.

Ja ich weiß, es ist eine kühne Idee
und viele werden jetzt hetzen:
ist ja ganz nett, doch viel zu naiv,
und letztlich nicht umzusetzen.

Doch ich bleibe dabei, denn wird ein Traum
geträumt von unzähligen Wesen,
dann wird an seiner zärtlichen Kraft
das Weltbild neu genesen.

Ja, ich hab einen Traum von einer Welt
und ich träume ihn nicht mehr still:
es ist eine grenzenlose Welt
in der ich leben will.
          (Konstantin Wecker)

7. Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht vor den Fahnen
für die Tapferkeit vor dem Freund
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

          (Ingeborg Bachmann, 1953)

8. „...und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“

Predigt zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 2020
Renke Brahms, Theologischer Direktor der Evangelischen Wittenbergstiftung, Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Liebe Gemeinde!

„... und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ Lukas 1,79


Diese Worte stehen im ersten Kapitel des Lukasevangeliums. In der Vorgeschichte der Weihnachtsgeschichte also, die uns dann ja von dem Frieden auf Erden erzählt, wie ihn die Engel besungen haben. Sie kommen aus dem Mund des Tempelpriesters Zacharias, der verstummt, als der Engel ihm die Geburt eines Sohnes im hohen Alter ankündigt. Und dieser Sohn ist Johannes, der Täufer Jesu, der Vorläufer des Mannes aus Nazareth, der uns bis heute die wunderbaren Worte zuruft: „Selig sind, die Frieden stiften!“

Zacharias verstummt – vor Staunen vielleicht, vielleicht, weil das Geheimnis dieser Geburt nur in stillem Schweigen zu bewundern und zu bestaunen ist – wie eigentlich jedes neue Leben.

Uns verschlägt es an diesem Tag, dem 8. Mai, die Sprache eher angesichts der Erinnerung an das Grauen, das mit dem 1. September 1939 und dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen begonnen hat. Am Ende waren es über 50 Millionen Tote und unzählige an Leib und Seele Verletzte. Heute erinnern wir uns an das Ende des 2. Weltkrieges vor 75 Jahren.

Vielleicht wird solchem Schrecken nur Schweigen gerecht. Eine Minute des Schweigens – oder auch länger. Was haben Menschen einander angetan, was haben Menschen leiden müssen, wie haben Politik und Gesellschaft – und auch Kirche versagt!

Das alles lässt sich ja kaum in Worte fassen. Und deshalb sind das Verstummen und Schweigen vielleicht der einzige Weg: Gerade nicht zu versuchen, Schrecken und Verstrickung in Schuld in Worte zu fassen, sondern ihnen auf andere Weise Ausdruck zu verleihen.

Und ist es nicht, andersherum betrachtet, geradezu atemberaubend, was sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges entwickelt hat? Wie Verständigung und Versöhnung möglich wurden und Europa eine unglaublich lange Phase des Friedens erlebte? Auch hier wäre eine Schweigeminute als Ausdruck der Dankbarkeit für das Geschenk des Friedens angebracht und angemessen.

In diesen Tagen, Wochen und vielleicht Monaten erleben wir mit der Corona-Pandemie die vielleicht größte Herausforderung nach dem 2. Weltkrieg. Es ist eine Herausforderung der Demokratie insgesamt wie jeder und jedes Einzelnen. Das soziale Leben wird auf ein Minimum heruntergefahren, Konflikte in Familien, die auf engem Raum leben, werden wachsen, Angst und Unsicherheit belasten viele Menschen. Aber: es ist kein Krieg! Ich bin froh, dass die Politik in Deutschland diesen Vergleich nicht zieht. Wir haben es mit unserem Verhalten selbst in der Hand, die Zahl der Infizierten und der Toten zu verlangsamen und die Krise zu überwinden. Ja, wir mögen verstummen und angemessen schweigen angesichts der vielen Opfer des Virus weltweit. Dass aber gesungen wird, die Kerzen in den Fenstern stehen und für die, die helfen, geklatscht wird, durchbricht das Verstummen und Schweigen.

Denn beim Verstummen und Schweigen dürfen wir nicht stehen bleiben! Wer dauerhaft schweigt, verdrängt und verlernt das Reden. Nur das Reden – und sei es noch so mühsam – hilft weiter. Das wissen alle, die damals und danach und bis heute in Kriegen Schreckliches erlebt haben. Das mussten die Kriegsgeneration wie die Nachkriegsgeneration lernen. Denn ohne das Reden über die Geschichte und die vielen einzelnen Geschichten, aus denen sie besteht, wird nichts verarbeitet, können wir nichts lernen aus der Geschichte.

Deshalb müssen wir sprechen über die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ein totalitäres System solche Macht bekam, warum Menschen nicht widerstanden haben, warum so viele verfolgt und vertrieben wurden, warum so viele sterben mussten.
Deshalb ist es so wichtig, an diesem Tag zu erinnern an die Opfer des Krieges: an über sechs Millionen Juden, an die Sinti und Roma, an die politisch anders Denkenden, an Soldaten und Zivilisten. Sie nicht zu vergessen und ihrer zu gedenken, ist auch an diesem Tag eine wichtige Aufgabe.

Zu erinnern ist auch an das weitgehende Versagen der Kirche. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 heißt es: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Schärfer und klarer noch hat es das Darmstädter Wort von 1947 formuliert:

„Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll, dass wir begannen, unseren Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker.“

An das Versagen der Kirche zu erinnern, heißt vor allem, zu jeder Zeit sensibel, wachsam und aufmerksam zu sein für die Gefährdung und die Förderung des Friedens.

„...und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“

Was Zacharias sich von dem erhofft, dessen Weg Johannes der Täufer vorbereiten soll, haben sich Menschen Gott sei Dank nach dem 2. Weltkrieg zu Herzen genommen.

Denn auch daran ist zu erinnern: an die Versöhnungs- und Friedensgeschichte Europas. Zu erinnern und dankbar im Gedächtnis zu halten ist die Aussöhnung mit den europäischen Nachbarn, mit Polen, Frankreich, England und anderen Staaten. Zu erinnern ist an die unzähligen Begegnungen von jungen Menschen aus allen Ländern der Welt, den Aufbau der zerstörten Länder – und dann eben auch an die friedliche Revolution und den Mauerfall, die Wiedervereinigung Deutschlands nach Jahren der Trennung infolge des 2. Weltkrieges. Das kann man gar nicht hoch genug schätzen. Und für Deutschland liegt darin auch eine Verpflichtung, für Frieden und Versöhnung, für gewaltfreie Lösungen von Konflikten einzutreten und zu arbeiten.

Und heute?

Wieder beten und hoffen wir mit den Worten des Zacharias: dass dieser Mann aus Nazareth, der Christus Gottes, unsere Füße auf den Weg des Friedens richte, dass wir aus seinem Geist des Friedens Kraft schöpfen, für den Frieden zu sorgen. Deshalb feiern wir Gottesdienst und beten. Das Gebet um den Frieden lässt uns aufmerksam und wachsam bleiben, es schenkt uns Kraft in Situationen, in denen wir erschrecken vor der Grausamkeit von Menschen und dem unendlichen Leid, das die Verfolgten, Vertriebenen, Gefolterten und Flüchtenden trifft. Das Gebet lässt uns nicht verzweifeln, auch wenn wir kaum einen Ausweg erkennen können. Und das Gebet ist Ausdruck unserer Solidarität mit den Leidtragenden der Konflikte und Kriege – zusammen natürlich mit der konkreten Hilfe.

Was aber ist zu sagen und zu tun angesichts der vielen Krisenherde dieser Erde – in der Ukraine, in Syrien, im Irak, in Israel und Palästina – und den vielen anderen Orten dieser Erde, die aus dem Gesichtsfeld entschwinden – an denen aber gelitten, getötet und gestorben wird?

„Nie wieder Krieg“ hieß es und: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ Und doch gibt es sie. Und einfach zu beurteilen ist keiner der Krisenherde. Und zu beantworten schon gar nicht. Leichtmachen kann es sich niemand, einfache Parolen jedenfalls werden der Komplexität der jeweiligen Situationen nicht gerecht. Und keiner, der in diesen Tagen politisch Verantwortung trägt, macht es sich leicht.

Aber klar ist: Für keinen Konflikt dieser Erde gibt es eine Lösung mit Mitteln der Gewalt.

Lernen lässt sich aus der Geschichte doch wohl vor allem dies: In keinem Konflikt kann und darf sich die eine oder andere Seite auf Gott berufen. Das hat noch immer zu fürchterlichem Fanatismus und unfassbarer Grausamkeit geführt. Zu sagen ist doch wohl dies: Einen gerechten Krieg gibt es nicht – nur einen gerechten Frieden. Und wer den Frieden will, muss ihn vorbereiten. Deshalb gilt es zuallererst, Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen, ihre Lebensverhältnisse zu sichern, Konflikten vorzubeugen, Konflikte mit gewaltfreien Mitteln zu begegnen – und diesem Denken und Handeln den absoluten Vorrang einzuräumen. Damit wir nicht immer zu spät kommen.

Ich werde mich nicht daran hindern lassen, mir vorzustellen, dass es gelingen kann, Konflikten anders zu begegnen als mit Gegengewalt. Ich will mich nicht durch eine vermeintliche Realpolitik behindern lassen, mir hier bei uns eine Debatte zu erhoffen, die von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Krisenprävention und für die Stärkung der zivilen und gewaltfreien Konfliktlösung dominiert wird – statt vom ständigen Reden über mehr militärische Verantwortung.

Und ich will mit vielen anderen in diesem Land nie wieder dem Hass und der Ausgrenzung von Menschen Raum geben. Heilfroh können wir sein, dass so viele auf die Straße gehen gegen Fremdenfeindlichkeit und für ein gemeinsames Leben mit den vielfältigen Menschen in unserem Land. Nie wieder dürfen rechtsradikales Gedankengut und Antisemitismus Politik dominieren und unsere Gesellschaft bestimmen. Auch die Toten von Halle, Kassel und Hanau mahnen uns, dem Gift des Hasses, der Gewalt der Worte und der daraus geborenen Taten entgegenzutreten. „Nie wieder!“ gilt heute auch für diese Bedrohung und für den Krieg der Worte.

Ich will mich mitten in der Corona-Krise nicht daran hindern lassen, mir vorzustellen, dass diese Situation Menschen, Gesellschaften und Völker näher zusammenbringt, dass Gräben überwunden werden und Frieden wachsen kann. Denn eins ist uns doch durch diese weltumspannende Bedrohung schon jetzt klargeworden: Wir leben in einer Welt, die für uns alle Platz hat und in der wir nur gemeinsam überleben können.

Das Darmstädter Wort sagte es angesichts des Krieges damals so: „Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs Neue: ‚Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.‘ Darum bitten wir inständig: Lasst die Verzweiflung nicht über euch Herr werden, denn Christus ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, lasst euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewusst, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens und ich füge hinzu: einer friedlichen Weltordnung – tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und dem inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient.“
 
Dazu gebe uns Gott seine Weisheit und seinen Frieden, der höher ist als alle unsere Vernunft und der unsere Herzen und Sinne bewahre in Jesus Christus.
 
Amen.

(aus: www.ekd.de/predigt-zum-75-jahrestag-des-endes-des-zweiten-weltkriegs-55267.htm vom 28.05.2020)

9. Dona Nobis Pacem

Schlusschoral der h-Moll-Messe, Johann Sebastian Bach (BWV 232)
Link zum YouTube-Video

10. Gebet für unsere Erde

Allmächtiger Gott,
der du in der Weite des Alls gegenwärtig bist
und im kleinsten deiner Geschöpfe,
der du alles, was existiert,
mit deiner Zärtlichkeit umschließt,
gieße uns die Kraft deiner Liebe ein,
damit wir das Leben und die Schönheit hüten.
Überflute uns mit Frieden,
damit wir als Brüder und Schwestern leben und niemandem schaden.
Gott der Armen, hilf uns,
die Verlassenen und Vergessenen dieser Erde,
die so wertvoll sind in deinen Augen, zu retten.
Heile unser Leben,
damit wir Beschützer der Welt sind und nicht Räuber,
damit wir Schönheit säen
und nicht Verseuchung und Zerstörung. Rühre die Herzen derer an,
die nur Gewinn suchen auf Kosten der Armen und der Erde.
Lehre uns,
den Wert von allen Dingen zu entdecken
und voll Bewunderung zu betrachten;
zu erkennen,
dass wir zutiefst verbunden sind mit allen Geschöpfen
auf unserem Weg zu deinem unendlichen Licht.
Danke, dass du alle Tage bei uns bist.
Ermutige uns bitte in unserem Kampf für Gerechtigkeit,
Liebe und Frieden.


(Papst Franziskus in Enzyklika „Laudato Si“)