Kirchenasyl.  Eine Hintergrund-Geschichte.

Es ist ein Mittwoch im Mai 2023. Der Feierabend hat schon lange begonnen, da klingelte es an der Kirchentür des Süsterhauses am Süsterplatz. Ein junger Mensch bittet um ein Gespräch. Er sagt nicht viel. Es wird deutlich: Da steht einer, der kann nicht mehr. 
Es wird Kaffee gekocht und geredet.
Der junge Mensch ist höflich, zurückhaltend, freundlich und wirkt innerlich heimatlos. Seine seelischen Verletzungen werden ohne viel Worte deutlich. Ein Raum gegenseitiger Achtung entsteht.
Nach und nach erzählt er seine Geschichte. Nicht alles wird offen, aber doch so viel: 
Er hat durch die georgische Mafia Gewalt erfahren und wurde mit dem Leben bedroht. 
Seine Familie wurde ebenso bedroht. 
Die Familie flieht nach Deutschland, Sie beantragt politisches Asyl. Vergeblich. Sie wird abgeschoben. 
Der noch minderjährige Junge ist bei den Abschiebemaßnahmen nicht vor Ort. So entgeht er einer Abschiebung. Seitdem kämpft er um einen Verbleib in Deutschland. Mit mehreren Asylanträgen, einer Abschiebung, Ausweisungen und Einreisen kämpft er um ein Leben in Deutschland, um der erfahrenen und drohenden Gewalt in Georgien zu entkommen. 
Der junge Mann braucht deutlich Unterstützung.
Weitere Begegnungen folgen. 
Neben Beratung und Teilhabe an der Gemeinschaft der Gemeinde werden die Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Netzwerk für Geflüchtete ausgebaut und Kontakte zu Gilead IV aufgenommen, um Behandlungen wegen Depression, suizidale Absichten und einer posttraumatischen Belastungsstörung zu unterstützen. Eine Rechtsanwältin wird mit der Begleitung des Falles beauftragt.
Auf Grund von Suizidabsichten und schweren depressiven Stimmungen kommt es immer zu Krankenhausaufenthalten in Gilead IV. Die behandelnden Ärzte diagnostizieren eine schwere posttraumatische Belastungsstörung. 
Im Sommer 2023 bestätigt eine Amtsärztliche Untersuchung, die durch das Ausländeramt veranlasst wurde, schwere seelische Verletzungen des jungen Menschen. Seine Reisefähigkeit sei nicht gegeben und eine Abschiebung derzeit aus Gesundheitsgründen nicht möglich.
Die behandelnden Ärzte in Gilead weisen in mehreren Stellungnahmen aus gesundheitlichen Gründen auf zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse hin, weil eine traumatherapeutische Behandlung in Georgien auf Grund der dort erlittenen Gewalterfahrungen nicht möglich ist. Ohne eine solche Behandlung bleibt es bei Episoden von Suizidalität und Depression. Auch wenn im Zielland eine fachliche Behandlung theoretisch möglich ist, kann sie angesichts der persönlichen Bedrohung von dem jungen Menschen und seiner Familie praktisch nicht erfolgreich sein, da er stets mit einer Retraumatisierung rechnen muss. Für eine Traumatherapie ist äußere Sicherheit unabdingbar.

Im Herbst stellt die begleitende Rechtsanwältin einen Antrag auf Feststellung eines Abschiebeverbotes. Dieser wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Februar 2024 trotz der ärztlichen Stellungnahmen und dem Erweis zielstaatsbezogener Abschiebehindernisse abgelehnt.
Am 6. März 2024 wird eine Klage beim Verwaltungsgericht Minden gegen den Bescheid des BAMPF eingereicht. Ziel ist die Feststellung von Abschiebehindernissen in Bezug auf Georgien. 
Was folgt, ist die Ankündigung einer geplanten Abschiebung durch die Ausländerbehörde Bielefeld. Die eingereichte Klage beim Verwaltungsgericht Minden hat keinerlei aufschiebende Wirkung einer Abschiebung.
Die Anwältin rät, den jungen Menschen ins Kirchenasyl zu nehmen.
Am 20.03.2024 spricht die Evangelisch-Reformierte Kirchengemeinde Bielefeld ein Kirchenasyl aus und bittet das Ökumenische Netzwerkt für Flüchtlinge des Kirchenkreises Bielefeld um Unterstützung.
Am 22.03.2024 wird das Kirchenasyl der Ausländerbehörde Bielefeld gemeldet. Das Netzwerk und die Gemeinde übernehmen Kosten für Unterkunft, Verpflegung und medizinische Belange. 
Auf Grund einer Erkrankung der begleitenden Rechtsanwältin übernimmt kurzfristig eine andere Anwältin den Fall. Alle Beteiligten sind zuversichtlich, was das weitere Verfahren vor dem Verwaltungsgericht in Minden angeht. Es wird geprüft, ob ein erweitertes ärztliches Gutachten hilfreich ist.

Am Dienstag, 28.05.2024 wird der junge Mensch in der Nähe der Altstädter Nicolaikirche und seiner Kirchenasyl-Unterkunft von einem Mitarbeiter der Ausländerbehörde Bielefeld erkannt. Dieser kennt ihn lange. Er weiß um seine Situation. Der Mitarbeiter des Ausländeramtes verständigt die Polizei der Stadtwache, dass ein Haftbefehl zur Abschiebung vorliegt.
Sie nehmen den 24 Jahre alten jungen Menschen fest. 
Er wird einen Tag später dem Haftrichter vorgeführt.
Im Haftbefehl steht, dass der Beschuldigte untergetaucht sei. Eine Meldung des Kirchenasyls mit Post- und Wohnanschrift ist nicht berücksichtigt. Widerrechtliche grundlose Einreise wird ihm vorgeworfen, fehlende Berufs- und Erwerbstätigkeit, obwohl ihm diese ohne legalen Aufenthaltsstatus verboten ist. Ein aus Mangel an Beweisen niedergeschlagenes Rechtsverfahren spielt eine Rolle, eine unzureichende Integration wird unterstellt. Zudem sei er der deutschen Sprache nicht mächtig. Auf dieser nicht rechtskonformen bzw. nichtzutreffenden Grundlage wird eine Gefährdung für die Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik behauptet. Das Verfahren ist kurz. Einsprüche seitens der Rechtsanwältin und des therapeutischen Teams aus Gilead werden abgewiesen. 
Die Haft wird vollstreckt. 

Es ist Mittwoch, 29.05.2024.
Der junge Mann wird mit Hand- und Fußfesseln noch am späten Abend in die Abschiebehaft nach Bühren verbracht.
Dort sitzt er in einer Einzelzelle und wird streng überwacht. Alle Versuche, ihn aus der Abschiebehaft herauszuholen, scheitern. Eine Abschiebung nach Georgien ist, so die gemeinsame Überzeugung der Fachleute, ist rechtswidrig, gesundheitsgefährdend und würdelos. Sie wird drei Wochen später vollzogen.

Die Unterstützungsgruppe bleibt in Kontakt mit dem jungen Mann. Kaum ist er in Georgien, reist er nach Istanbul. Noch vor Ablauf des Touristenvisums will er seinen Aufenthalt in seine Geburtsstadt nach Russland verlegen. Dort hat er alte familiäre Beziehungen. Auf der Fahrt nach Tiflis bricht er zusammen. Der Druck, wieder nach Georgien zu reisen, ist zu groß. Im Krankenhaus wird er liebevoll behandelt. Er setzt seine Fahrt in seine Geburtsstadt fort. In Russland findet er eine Wohnung und Arbeit. Er würde gerne bleiben. Die russischen Behörden werden ihn zum russischen Staatsbürger machen und zum Kriegsdienst einziehen, wenn sein Touristenvisum abgelaufen ist. Er fährt zurück nach Georgien, hält sich versteckt, arbeitet immer wieder an verschiedenen Orten und hofft, dass es besser wird mit ihm, dem Leben und von ihm gefühlten drohenden Gefahr.


Wir beten für ihn und den Frieden der Welt.
Und laden ein zu einer Veranstaltung in der Süsterkirche

am Mittwoch, 30.10.2024 um 19.00 Uhr.
NACH ANSCHLAG VON SOLINGEN: DIE NÄCHSTE ENTGRENZTE ABSCHIEBEDEBATTE: EIN FAKTENCHECK
Mit Sebastian Rose,
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Köln